Gezeugtes Wesen oder erzeugtes Produkt? Ethisch-moralische Diskussion in Kloster Irsee

04. Oktober 2016: Im Schwäbischen Bildungszentrum Irsee trafen sich dieser Tage der frühere SPD-Fraktions- und -Parteivorsitzende Dr. Hans-Jochen Vogel (München), der Augsburger Weihbischof Dr. Dr. Anton Losinger, Robert Antretter (früherer SPD-Bundestagsabgeordneter und Vorsitzender der Bundesvereinigung Lebenshilfe) und der Leiter der Bildungseinrichtung, Dr. Stefan Raueiser, zu einem Gespräch, bei dem es unter anderem um die Auswirkungen einer ausufernden Präimplantations- und Pränatal-Diagnostik, einer außerhalb des Mutterleibs Embryonen erzeugenden Stammzell-Produktion und um die an Wahrscheinlichkeit zunehmende Möglichkeit, die Genome eines Embryos geplant zusammenzusetzen oder zu verändern ging.
Dr. Stefan Raueiser (Kloster Irsee), Norbert Antretter, Dr. Hans-Jochen Vogel und Weihbischof Anton Losinger in Irsee (im Bild von links)

Alle vier Gesprächsteilnehmer stimmten darin überein, dass hier Grundfragen des Menschseins berührt werden. Übereinstimmung ergab sich auch darüber, dass das Grundgesetz nicht nur eine Zusammenstellung von Zuständigkeiten und von Organisations- und Verfahrensvorschriften sei. Ihm liege vielmehr ein bestimmtes Menschenbild und eine klare Werteordnung zugrunde. Hans-Jochen Vogel, früher selbst Mitglied im Nationalen Ethikrat, meint zu den durchaus erkennbaren Gefährdungen: „Das Menschenbild des Grundgesetzes findet seinen deutlichsten Ausdruck in seinem Eingangsartikel, dessen erste beiden Sätze lauten: ,Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt‘.“. Dieser Schutz gebühre auch der Vorstellung vom Wesen des Menschen, von der der Parlamentarische Rat seinerzeit ausging.

Weihbischof Dr. Dr. Anton Losinger wies dabei insbesondere auf die aktuelle Debatte um den sogenannten Pränatal-Test hin, bei dem genetische Abweichungen des Kindes aus dem Blut der schwangeren Mutter nachgewiesen werden. „Die Schutzwürdigkeit des ungeborenen Lebens gerät unter großen Druck, wenn Krankenkassen die Informationsbeschaffung über mögliche ‚genetische Defekte‘ als Regelleistung übernehmen, weil die Erfahrung mit der Schwangerschaftsberatung gezeigt hat, dass das Wissen um potentielle Schädigungen unmittelbar den Ruf nach Abbruch der Schwangerschaft nach sich zieht.“ Kein menschliches Leben dürfe verworfen werden, mahnt auch der nunmehrige Ehrenvorsitzende der Lebenshilfe, Robert Antretter, der auch der Bioethik-Kommission der Bayerischen Staatsregierung angehört, und ruft in Erinnerung, dass bei etwa 92% der Fälle, in der vorgeburtlich eine Trisomie 21 (auch Down-Syndrom genannt), festgestellt wird, anschließend eine Abtreibung erfolge.

Auch die Möglichkeiten des Genom-Editing mittels CRISPR/Cas (einer biochemischen Methode, um das menschliche Erbgut (DANN) gezielt zu schneiden und verändert wieder zusammen zu führen) fuße letztlich auf einer Unterscheidung zwischen „lebenswertem“ und „lebensunwertem“ Leben, was der Unverfügbarkeit menschlichen Lebens entgegenstehe, warnte Weihbischof Dr. Dr. Losinger. „Das menschliche Genom zu editieren und dann neu zu designen, widerspricht der Schutzwürdigkeit des ungeborenen Lebens.“

Es gehe darum, so lautete die Schlussfolgerung der Gesprächsteilnehmer, dass der Mensch auch künftig gezeugt und nicht wie ein Produkt erzeugt werde. Unsere Gesellschaft insgesamt müsse sich mit dieser Herausforderung grundsätzlich auseinandersetzen. Der Politik komme dabei eine besondere Verantwortung zu. Das Kloster Irsee gab gerade für dieses Gespräch einen zum Nachdenken anregenden Hintergrund ab. War es doch ein Ort, an dem sich seit dem 19. Jahrhundert eine Heil- und Pflegeanstalt befand, aus der während der mörderischen Euthanasie-Aktion des NS-Gewaltregimes mehrere Hundert Menschen in den Tod geschickt wurden. „Die NS-Patientenmorde führen eindringlich vor Augen, zu welcher Barbarei ökonomisch oder mit Mitleids-Argumenten verbrämte Unterscheidungen zwischen ‚lebenswertem‘ und ‚lebensunwertem‘ Leben führen, betonte Dr. Stefan Raueiser. Kloster Irsee mit seinen vielfältigen Publikationen zur eigene Psychiatrie-Geschichte und einer lebendigen Gedenkkultur an die Opfer der NS-Euthanasie sei demgegenüber „ein erfolgreiches Werk gegen das Vergessen“, würdigte Robert Antretter im Namen aller Anwesenden die Arbeit der Bezirkseinrichtung.

Auch der jetzt in die Kinos gelangende Film „Nebel im August“, der das Leben eines Buben schildert, der 1944 mit 13 Jahren in Irsee sterben musste, gehört in diesen Zusammenhang.