„Auch der ‚Gnadentod‘ ist Mord“ - Historische Analyse des Augsburger Strafprozesses über die NS-„Euthanasie“-Verbrechen in Kaufbeuren und Irsee in Vorbereitung

03. Juli 2019: Vor genau siebzig Jahren - vom 7. bis zum 30. Juli 1949 - verhandelte das Schwurgericht beim Landgericht Augsburg gegen den damaligen ärztlichen Direktor der Heil- und Pflegeanstalt Kaufbeuren/Irsee, Dr. Valentin Faltlhauser, gegen zwei Krankenschwestern und einen Krankenpfleger sowie gegen den ehemaligen Verwaltungsleiter der Anstalt wegen ihrer Verstrickung in die nationalsozialistischen Patientenmorde. Aus Anlass des 70. Jahrestages hat Kloster Irsee als Tagungs-, Bildungs- und Kulturzentrum des Bezirks Schwaben eine umfassende Recherche des Prozesses, seiner Vorgeschichte und seines Verlaufs, in Auftrag gegeben, geriet doch das Wissen über dieses Strafverfahren schon sehr bald nach der Urteilsverkündung in Vergessenheit.

Als Bearbeiter gewonnen wurde der Historiker Dr. Dietmar Schulze (Leipzig). Als Mitglied des bundesweiten Arbeitskreises zur Erforschung der nationalsozialistischen „Euthanasie“ und Zwangssterilisation hat er bereits an Forschungen und Veröffentlichungen der „Euthanasie“-Gedenkstätten Pirna-Sonnenstein (Sachsen), Brandenburg an der Havel und Schloss Hartheim (Oberösterreich) mitgewirkt.

Wichtigste Quelle der historischen Studie sind die im Staatsarchiv Augsburg erhaltenen Gerichtsakten: Acht Archivkartons enthalten Verhörprotokolle und Untersuchungsberichte, die Anklageschrift, das Protokoll der Hauptverhandlung und das Urteil, außerdem die Beschuldigten- und die Zeugenvernehmungen, viele Beweisdokumente und Auszüge aus dem Spruchkammerverfahren. Darüber hinaus verwahrt das Bayerische Hauptstaatsarchiv in München einen aufschlussreichen Schriftwechsel zur Vorbereitung des Augsburger Prozesses und die Urteile in etwa zeitgleich geführter Strafverfahren gegen andere „Euthanasie“-Täter. Eine weitere spannende Quelle stellt die zeitgenössische Tagespresse dar: Die damals in Augsburg erschienenen „Schwäbische Landeszeitung“ und „Die Tagespost“ hatten eigene Berichterstatter in den Gerichtssaal entsandt und überliefern dadurch Einzelheiten, die in den amtlichen Quellen fehlen.

In ihrem Urteilsspruch plädierten die Geschworenen in Bezug auf den ehemaligen Verwaltungsinspektor Georg Frick auf „nicht schuldig“. Im Handeln von Dr. Valentin Faltlhauser erkannten sie eine „Anstiftung zur Beihilfe zum Totschlag“, in Bezug auf die Kaufbeurer Krankenschwestern Mina Wörle und Olga Rittler sowie auf den Irseer Kranken¬pfleger Paul Heichele lautete der Spruch auf „Beihilfe zum Totschlag“. Allen vier schuldig gesprochenen Angeklagten billigten die Geschworenen mildernde Umstände zu.

Die als „Todesengel“ gefürchtete Krankenschwester Pauline Kneissler wurde in Augsburg nur als Zeugin vernommen, nicht jedoch angeklagt, da sie bereits im Januar 1948 durch das Schwurgericht Frankfurt am Main rechtskräftig verurteilt worden war. In seinem Urteils¬spruch erwähnte das hessische Gericht dabei explizit auch Kneisslers Einsatz in Irsee, sodass eine neuerliche Strafverfolgung nicht möglich war.

Eine besondere Rolle spielte im Augsburger Prozess auch der konkrete „Fall Lossa“, galt doch der Staatsanwaltschaft die Tötung des erst 14-jährigen Jungen als Präzedenzfall. Ernst Lossa, 1929 in Augsburg geboren, gelangte im Jahr 1942 aus dem Jugenderziehungsheim in Markt Indersdorf (Kreis Dachau) nach Kaufbeuren. Nach etwa einem Jahr in der Hauptanstalt wurde Ernst in die Nebenstelle Irsee weiterverlegt. Der Zeugenaussage des Pflegers Max Ries zufolge hatte Lossa beobachtet, wie andere Kranke zu Tode gespritzt wurden und erhielt deshalb auf Anweisung Faltlhausers am 8. August 1944 unter dem Vorwand einer Typhusimpfung selbst eine tödliche Injektion verabreicht.

Zur Klärung der widersprüchlichen Aussagen im „Fall Lossa“, und um den genauen Tat¬hergang zu rekonstruieren, fand sich das Schwurgericht unter Vorsitz von Landgerichts¬direktor Werner Oppel am 16. Prozesstag, dem 27. Juli 1949, zu einem „Augenscheins Termin“ in Kloster Irsee ein. Nach der Besichtigung des Sterbezimmers von Ernst Lossa stellte ein Sachver¬ständiger elf Patienten mit unterschiedlichen psychischen Erkrankungen vor, um den Prozessbeteiligten eine Vorstellung von den diversen Krankheitsbildern zu vermitteln.

Nach heutigem Rechtsempfinden ist das verhängte Strafmaß – Freiheitsstrafen zwischen einem und drei Jahren - angesichts der vielen Todesopfer unverhältnismäßig gering. Aus der Rückschau scheint es jedoch so zu sein, als hätten Angeklagte und Verteidigung, aber auch Geschworene und Öffentlichkeit, ein noch geringeres Strafmaß erwartet.

Um alle Prozessbeteiligten vorzustellen, den Prozessverlauf zu dokumentieren und das Ergeb-nis des Strafverfahrens in die Rechtsprechung der Nachkriegszeit einzuordnen, erscheint im November d.J. in der Schriftenreihe „impulse“ des Bildungswerks des Bayerischen Bezirke¬tags eine breit angelegte historische Darstellung und Analyse. Herausgeber des Schriften¬bandes sind der Vorstandsvorsitzende der Bezirkskliniken Schwaben, Thomas Düll, und Dr. Stefan Raueiser, Leiter des Schwäbischen Bildungszentrums und Bildungswerks Irsee.

Der Öffentlichkeit vorgestellt wird die Studie im Rahmen der Ausstellung „Kaufbeuren unterm Hakenkreuz. Eine Stadt geht auf Spurensuche“ am 13. Februar 2020 im Stadt¬museum Kaufbeuren.