Bezirkskrankenhaus Günzburg: Unterstützung für Menschen mit psychischer Erkrankung im Umgang mit Vorurteilen und Stigma
Menschen mit psychischer Erkrankung stehen vor einer doppelten Herausforderung: Einerseits müssen sie die Symptome ihrer Erkrankung bewältigen. Andererseits begegnen sie häufig Stigma und Vorurteilen. Freunde wenden sich ab, im Beruf werden sie als inkompetent eingeschätzt und so fort. Die Erfahrung und Erwartung von Vorurteilen führt dazu, dass Menschen sich zurückziehen und soziale Kontakte oder Hilfesuche vermeiden. Schließlich stimmen viele Betroffene den Vorurteilen zu und wenden sie gegen sich. Dieses sogenannte Selbststigma kann gravierende negative Folgen haben: Für den Krankheitsverlauf, für soziale Kontakte, für das Aufsuchen von Hilfe und Behandlung, für das Arbeitsleben oder für Familien und das Hilfesystem.
Die heutige Psychologie und Medizin bieten viele Möglichkeiten, Symptome psychischer Erkrankungen zu behandeln. Doch es gibt kaum Angebote, um Stigma und seine Folgen für Betroffene abzubauen. Daher untersucht das Projekt „In Würde zu sich stehen“ (kurz: IWS) der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie II der Universitätsmedizin Ulm am Bezirkskrankenhaus (BKH) Günzburg eine Intervention, die Menschen mit psychischer Erkrankung bei ihrer Stigmabewältigung hilft. Das Gruppenprogramm unterstützt Teilnehmende bei ihrer Entscheidung, ob und wie sie anderen von ihrer aktuellen oder früheren psychischen Erkrankung erzählen sollen. Weil psychische Erkrankungen in der Regel von außen nicht sichtbar sind, ist diese Entscheidung über Offenlegung oder Geheimhaltung eine Schlüsselentscheidung im Umgang mit Stigma und Selbststigma und daher im Fokus des IWS-Programms. „Das Projekt ist ein großer Schritt für den Kampf gegen Stigma und seine Folgen in Deutschland. Die Ergebnisse werden uns erlauben, IWS als Angebot für Betroffene und gegen ihre Belastung durch Stigma weiterzuentwickeln. Daher freuen wir uns auf alle, die teilnehmen wollen“, so Prof. Nicolas Rüsch, Gesamtprojektleiter und Leiter der Sektion Public Mental Health der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie II. Das Projekt läuft bis Ende 2025 und wird gefördert vom Bundesgesundheitsministerium.
Je nach Umfeld und betroffener Person birgt die Entscheidung über Offenlegung oder Geheimhaltung Chancen und Risiken: Offenlegung kann zu sozialer Unterstützung führen, aber auch zu Ausgrenzung. Daher sind Offenlegungsentscheidungen komplex und erfordern eine sorgfältige Abwägung. Es ist also nicht das Ziel von IWS, Menschen zu Offenlegung zu bewegen. Vielmehr fördert das Projekt durch den Austausch mit anderen Betroffenen und den Gruppenleitenden die wohlüberlegte, selbstbewusste Entscheidung für oder gegen Offenlegung, je nach Kontext und eigenen Lebenszielen. „Die Offenlegung einer psychischen Erkrankung kann ein wichtiger Schritt auf dem Weg zur individuellen Heilung sein“, so IWS-Gruppenleiterin Claudia Schulz. „Indem man über Probleme spricht, kann man Unterstützung und Verständnis von anderen erhalten, was dazu beitragen kann, die Isolation zu durchbrechen und den Heilungsprozess zu fördern. Es ist jedoch auch wichtig, sich bewusst zu sein, dass nicht jeder positiv auf solch eine Offenbarung reagieren wird.“
Neben dem Abwägen der Vor- und Nachteile einer Offenlegung in verschiedenen Situationen lernen Teilnehmende des Programms mögliche Stufen der Offenlegung kennen: von sozialem Rückzug über teilweise Offenlegung bis hin zur aktiven Verbreitung der eigenen Erfahrungen. Auch die Auswahl geeigneter Gegenüber für eine mögliche Offenlegung und wie man sich an die Offenlegung herantasten kann, gehört dazu. Schließlich vermittelt IWS einen Leitfaden, wie Menschen ihre Geschichte mit psychischer Erkrankung erzählen können, falls sie das möchten.
Wer kann am Projekt teilnehmen?
Alle Menschen im Alter von 18 bis 60 Jahren, die eine psychische Erkrankung hatten oder haben und sich mit Vorurteilen, Selbststigma oder (Nicht-)Offenlegung beschäftigen, sind im Projekt willkommen. Weil Stigma für Menschen mit verschiedenen psychiatrischen Diagnosen ein Problem ist, ist die Teilnahme nicht auf eine bestimmte Diagnosegruppe beschränkt. Das IWS-Programm findet aktuell an verschiedenen Standorten statt, dazu gehören Ulm, Heidelberg, Stuttgart, Augsburg, Günzburg, der Bodenseekreis, München, Regensburg und Leipzig. Teilnehmende werden bis Ende 2024 gesucht. Die Teilnahme ist nur vor Ort möglich, nicht online.
Ansprechpersonen für eine Teilnahme am Projekt in Ulm, Günzburg und Augsburg sind:
Chiara Weisshap, chiara.weisshap@uni-ulm.de, Telefon 0173 3490784.
Claudia Schulz, claudia.schulz@uni-ulm.de, Telefon 0173 3490880