BKH Kaufbeuren: „Dieser Teil der Kaufbeurer Geschichte ist unvorstellbar“
Tim wurde in Kaufbeuren geboren. „Ich weiß von dem, was hier passiert ist, erst seit ein, zwei Jahren“, sagt der Schüler des Jakob-Brucker-Gymnasiums sichtlich betroffen. So geht es auch Ela. „Das Ganze lag für mich im Verborgenen. Dieser Teil der Kaufbeurer Geschichte ist unglaublich, unvorstellbar“, berichtet die Schülerin der 11. Jahrgangsstufe. Beide sitzen im Besprechungsraum der Regionalleitung des Bezirkskrankenhauses (BKH) Kaufbeuren - genau dort, wo Valentin Faltlhauser, T4-Gutachter und ehemaliger Direktor der Heil- und Pflegeanstalt Kaufbeuren sowie der Zweigstelle Irsee, mit seiner Familie lebte. Wie sich herausstellte, war er maßgeblich an Euthanasieverbrechen beteiligt. Was die Gymnasiasten so bewegt und erschüttert, ist das Erfahren und Aufarbeiten einer ganz dunklen Zeit des Nationalsozialismus. Damals wurden etwa 2000 Patientinnen und Patienten der damaligen Heil- und Pflegeanstalten Kaufbeuren und Irsee infolge medizinischer Versuche, Entzugs- und Hungerkost sowie durch aktive Tötung mithilfe von überdosierten Medikamenten umgebracht. Zuvor hatten die berüchtigten „grauen Busse“ fast 700 Menschen der Kaufbeurer „Anstalt“ abgeholt und sie in Mordzentren transportiert, wo ihnen ihr Leben genommen wurde.
Das P-Seminar „Euthanasie Erinnern“ am Jakob-Brucker-Gymnasium hat sich diese düsterste Zeit in der Geschichte der Klinik während der NS-Zeit aus einem ganz bestimmten Grund vorgenommen: Die Schülerinnen und Schüler nehmen mit ihrem Lehrer Dario Krieger an einem bundesweiten Projekt teil. Auch die Berufsfachschule für Pflege des BKH ist beteiligt. Die Zeitbild-Stiftung realisiert in Zusammenarbeit mit dem Zeitbild-Verlag die Auseinandersetzung mit dem Thema NS-„Euthanasie“ im Schulunterricht. Der Künstler Andreas Knitz entwickelt mit den Jugendlichen im Rahmen von Workshops an fünf authentischen Orten der damaligen NS-„Zwischenanstalten“ Kunstwerke. Einer dieser Orte ist Kaufbeuren. Im Juli 2024 soll das Kunstwerk im öffentlichen Raum präsentiert werden. Das Projekt wird gefördert durch die Stiftung Erinnerung, Verantwortung, Zukunft (EVZ) und durch das Bundesfinanzministerium.
Wie das Kunstwerk aussehen und wo es stehen wird, ist noch völlig offen. Künstler und Architekt Knitz (bekannt durch das mobile Denkmal „Das Denkmal der Grauen Busse“) lässt den Gymnasiasten und Pflegeschülern größtmögliche künstlerische Freiheit. Inzwischen sind sie schon tief in die dunkle Materie eingestiegen.
Zum Auftakt des Projektes besuchten die Schüler das Historische Archiv des BKH. Dieses verfügt über einen außergewöhnlichen Bestand: die Kranken- und Verwaltungsakten seit Gründung der beiden Häuser Kreisirrenanstalt Irsee (1849) und Heil- und Pflegeanstalt Kaufbeuren (1876). Die Leiterin Petra Schweizer-Martinschek zeigte ihnen einige Krankenakten der Patienten und Patientinnen, die im Rahmen der „dezentralen“ NS-„Euthanasie“ in der Anstalt ermordet wurden.
Die Ausführungen von Prof. Dr. Michael von Cranach bei einem Abendvortrag Ende September hinterließen bei den jungen Menschen bleibenden Eindruck. Der ehemalige Leitende Ärztliche Direktor des BKH von 1980 bis 2006 und einer der Nachfolger von Faltlhauser hat maßgeblichen Anteil an der Aufarbeitung und der heutigen Erinnerungskultur an der Klinik.
Tief bewegt hat das P-Seminar auch die Exkursion in die Gedenkstätte Grafeneck Ende Oktober. Dorthin wurden viele der Kaufbeurer Patienten deportiert und anschließend umgebracht.
Wie man Geschichte begreifbar machen kann – auch wenn sie noch so furchtbar ist, erlebten die Elftklässler und Pflegeschülerinnen bei einem weiteren, sehr eindrucksvollen Workshop: Hierbei wurde auf dem Gelände des BKH Kaufbeuren in aller Öffentlichkeit Hungerkost „nachgekocht“. Wie damals sollte Gemüse so lange ausgekocht werden, bis lediglich eine wässrige Brühe fast ohne Nährwert übrigblieb – ohne Fleisch oder Fett. Während der NS-Zeit führte dies bei Patienten zu einem allmählichen Verhungern. Denn mit dem Abbruch der sogenannten T4-Aktion im Sommer 1941 hatte die Ermordung psychisch kranker und behinderter Menschen in der Nazizeit nicht aufgehört. Das Töten wurde nur perfider.
Bei zwei weiteren Arbeitssitzungen unter der Leitung von Künstler Knitz, die unlängst stattfanden und bei denen auch Archivleiterin Petra Schweizer und Prof. von Cranach mitwirkten, standen die Fragen, wie ein Denkmal aussehen und wo es stehen könnte, im Mittelpunkt. „Mich haben die Akten, die wir im Archiv gesehen haben, fasziniert, ihr Geruch, die Geschichte der einzelnen Personen“, schildert Andreas. „Hinter jeder Akte ist ein Mensch. Diese Emotionalität würde ich gerne in dem Denkmal widerspiegeln“, sagt Julia. Isabel würde gerne einen Schwerpunkt auf das Thema Menschenwürde setzen. Sie kann sich eine Glaskugel vorstellen, in deren Inneren man etwas sieht, aber nicht rankommt. Ela denkt an eine Statue, die die Gleichstellung symbolisiert. „Auch Menschen mit Behinderung sollen gebraucht werden“, ergänzt Rebecca von der Pflegeschule, die ebenfalls auf Gleichrangigkeit, Teilhabe und Inklusion in der Gesellschaft setzt.
Was am Ende rauskommt, bleibt offen und spannend. Alle Teilnehmenden am P-Seminar „Erinnern“ sind sich darüber einig, dass sie das Geschehene zwar nicht mehr verändern können, jedoch alles versuchen müssten, dass so etwas in der Zukunft nicht mehr passiert. Das Kunstwerk soll ein Teil dieses Bestrebens sein.