Inhaltliche Neukonzeption der Gedenkstätte Prosektur in Kloster Irsee

21. September 2018: Mitte der 1990er Jahre wurde ein Nebengebäude von Kloster Irsee (seit 1981 Tagungs-, Bildungs- und Kulturzentrum des Bezirks Schwaben) als „Prosektur“ der ehemaligen Heil- und Pflegeanstalt Irsee wiederentdeckt. In der „Prosektur“ wurden die verstorbenen Patienten obduziert, um Klarheit über die Todesursachen zu erlangen. Das Gebäude wurde seinerzeit zur Gedenkstätte umgewidmet, da die beiden Innenräume – der Sektionsraum und der Raum für die Aufbahrung der Leichname – eng mit den „Euthanasie“-Verbrechen der NS-Zeit verbunden sind: Hier wurden Leichenschauscheine mit falschen Todesursachen ausgestellt. Hier wurden Leichen ohne Genehmigung Organe zu Forschungszwecken entnommen.

„Die Erinnerungsarbeit und die Aufarbeitung der Verbrechen an behinderten und kranken Menschen in Irsee während des Nationalsozialismus ist dem Bezirk Schwaben ein sehr wichtiges Anliegen", betont Bezirkstagspräsident Jürgen Reichert: „Die rege Forschungstätigkeit hat nicht zuletzt auch dazu geführt, dass über das Schicksal von Ernst Lossa, das auch verfilmt wurde, das öffentliche Interesse an der Irseer Geschichte weiter wuchs."

Dem und den heutigen Ansprüchen an eine moderne, historisch exakte und didaktisch sensibel ausgerichtete Gedenkstätten- Arbeit möchte man nun beim Bezirk Schwaben und seinem Eigenbetrieb Kloster Irsee besser gerecht werden. Unter Hinzuziehung von externen Fachleuten soll die gesamte Prosektur neugestaltet werden. Der zuständige Werkausschuss des Bezirk Schwaben beschloss heute einstimmig, die Prosektur zu schließen, bis ein neues Konzept für die Gedenkstätte erarbeitet und umgesetzt ist.

Derzeit vorhanden sind in den beiden Räumen Originale der damaligen Innenausstattung wie der Seziertisch, eine Tragbare mit Sargtuch, Waschbecken und auch ein Ofen mit Kiste für Heizmaterial. Ergänzt wurde dies durch ein Werk der international anerkannten Künstlerin Beate Passow aus München. Ihr Triptychon mit dem Titel „… möchte ich Sie noch höflich bitten, mir folgende Fragen zu beantworten" führt den Besuchern eindrücklich die Schrecken der NS-Verbrechen vor Augen und wurde 1996 nach einer Ausstellung im Kunsthaus Kaufbeuren angekauft.

Das Kunstwerk zeigt im unteren Bereich der drei Bildtafeln den Anriss eines Briefwechsels eines Lungenfacharztes im Allgäu, der 1942-44 gemeinsam mit dem damaligen Leiter der Heil-und Pflegeanstalt Kaufbeuren/Irsee, Dr. Valentin Faltlhauser, Tbc-Impfversuche an Patienten der „Kinderfachabteilung" in Kaufbeuren, mithin Menschenversuche an Minderjährigen durchführte. Die oberen Bildteile zeigen drei Ganzkörper-Fotos nackter Kinder, die dem Betrachter von Pflegepersonal entgegen gehalten werden. Die Platzierung des Kunstwerks erweckt durch die Kombination mit den historischen Briefausschnitten den Eindruck, es handele sich um Menschenversuche an den abgebildeten Jungen in der Irseer Prosektur.

Bei der Frage, ob auch dieses Kunstwerk Teil der Neugestaltung werden soll, traten nun jedoch Bedenken auf, handelt es sich bei den von der Künstlerin verwendeten historischen Fotos doch um „Fotografien wider Willen". Die Auffassung zur Verwendung solcher Fotos aus Täterperspektive hat sich in den vergangenen Jahren verändert und verstößt in Gedenkstätten nach Ansicht von Experten gegen die Persönlichkeitsrechte der dargestellten Opfer. Diese würden durch die Art der Darstellung erneut gedemütigt und stigmatisiert.

Zudem haben jüngste Recherchen ergeben, dass mindestens eines der dargestellten Kinder nachweislich nicht in Irsee war: Die mittlere Bildtafel zeigt einen Jungen aus Villingen, der 1943 in die Kinderfachabteilung Kaufbeuren aufgenommen wurde und dort innerhalb eines Monats starb. Alle Indizien der Krankengeschichte sprechen für eine Patiententötung, jedoch ohne Verbindung zu den Impfversuchen bzw. zur Anstalt Irsee. In den vergangenen Tagen ergaben sich zudem Hinweise, dass es sich bei dem auf der linken und auf der rechten Bildtafel gezeigten Jungen um eine andere Person handelt, nämlich um einen 1936 in Mannheim geborenen Buben, der im Dezember 1943 in die Kinderfachabteilung Kaufbeuren verlegt wurde. Er überlebte den Krieg und wurde im August 1945 in ein schwäbisches Pflegeheim weiterverlegt. Auch hier fehlen Verbindungen zu Irsee und den Menschenversuchen.

„Bei Beate Passows Triptychon handelt es sich um eine höchst eindringliche künstlerische Arbeit, die die Schrecken der NS-Patientenmorde veranschaulicht und für viele Irsee-Besucher Teil ihrer Erinnerung geworden ist. Angesichts der jüngsten Fragen zu den Biografien der abgebildeten Kinder und auch, um den leisesten Verdacht einer diskriminierenden Opferdarstellung zu vermeiden, hatten wir nur zwei Möglichkeiten: Entweder die Prosektur bis zur Klärung aller offenen Fragen zu schließen oder aber das Kunstwerk aus dem Raumzusammenhang zu lösen. Wir haben uns für die Schließung entschieden, weil wir mit einer inhaltlichen Neukonzeption der Gedenkstätte berechtigten Ansprüchen an eine zeitgemäße Gedenkstättenarbeit entsprechen möchten", so Bezirkstagspräsident Jürgen Reichert.

Der Wandel der Gedenkkultur veranlasst aktuell auch das NS-Dokumentationszentrum München und das Stadtmuseum Kaufbeuren, über Änderungen ihrer Dauerausstellungen nachzudenken. Ein medizinhistorisches Gutachten der Universität Heidelberg legt dem Bezirk ebenfalls eine Neukonzeption der Gedenkstätte nahe, bei der ausgewiesene Gedenkstätten-Pädagogen zu Rate gezogen werden sollen. Die Hinzuziehung weiterer Sachverständiger aus NS-Gedenkstätten und Erinnerungsorten an die „Euthanasie"-Verbrechen ist bereits in die Wege geleitet.

Ansprechpartner:

Birgit Böllinger, Pressesprecherin Bezirk Schwaben Tel. 08 21 - 31 01 283, Mail: birgit.boellinger@bezirk-schwaben.de

Dr. Stefan Raueiser, Leiter Schwäbisches Bildungszentrum Irsee, Tel. 08 34 1 - 90 66 00; Mail: stefan.raueiser@kloster-irsee.de