Lebenshilfe Kempten: Klausurgespräch mit dem Bezirkstagspräsident, den Allgäuer Bezirksräten und den Trägern der Behindertenhilfen im Allgäu
Und genau deshalb trafen sich jetzt Vertreter von neun Allgäuer Einrichtungen der Behindertenhilfe mit Bezirkstagspräsident Martin Sailer, neun Allgäuer Bezirksräten sowie der Leitung der Sozialverwaltung des Bezirk Schwabens Monika Kolbe, um auf die akute Personalkrise hinzuweisen und gemeinsam ein Krisentreffen mit den sozialpolitischen Ministern im bayerischen Landtag vorzubereiten. Bei dem persönlichen Gespräch mit den Politikern soll ein Thesenpapier mit kurz-, mittel- und langfristigen Maßnahmen zur Abmilderung der massiven Personalnot in der Pflege und der Behindertenbetreuung übergeben werden. Dabei sollen auch Betroffene und Angehörige zu Wort kommen, denn: „Es muss sich einiges ändern – angefangen von der Fachkraftquote bis hin zur Gesetzgebung“, stellte Christine Lüddemann, Geschäftsführerin der Lebenshilfe Kempten, fest. Die Alternative: „Einrichtungen brechen weg, denn ohne Personal können keine Klienten betreut werden, ohne Klienten können Einrichtungen wirtschaftlich nicht gehalten werden.“ Im schlimmsten Fall würde das bedeuten: „Die Versorgung von Menschen mit Behinderung jeglichen Alters bis hin zu alten Menschen obliegt wieder den Familien und Angehörigen.“
Das aktuelle Treffen fand in den Räumen der Allgäuer Werkstätten in Kempten statt. Dabei waren diesmal neben Vertretern der Lebenshilfen Kempten und Sonthofen, der Diakonie Allgäu, der Körperbehinderten Allgäu (KB) und der Allgäuer Werkstätten (AW) auch die Caritas Kempten-Oberallgäu, die Lindenberger Werkstätten sowie die Lebenshilfen Lindau und Memmingen/Unterallgäu anwesend.
Kompakt und konstruktiv wurde das Thema „Personalmangel“ angepackt und eine gemeinsame Strategie entwickelt. Schon jetzt sind zehn Prozent der Stellen vakant, bundesweit fehlen 500 000 Pflegekräfte! Die Körperbehinderte Allgäu musste bereits eine Wohngruppe schließen, konnte die Bewohner aber auf andere Gruppen verteilen. „Ob das beim nächsten Mal noch möglich sein wird?“ stellte Dr. Michael Knauth, Geschäftsführer der KB und Moderator der Krisensitzung in den Raum. Die Lebenshilfe Kempten kann für das kommende Schuljahr zwei Gruppen in der heilpädagogischen Tagesstätte nicht mehr anbieten, weil das Personal fehlt. Die Konsequenz: Die Kinder mit Behinderung müssen zu Hause von Eltern oder Angehörigen betreut werden. In der Altenpflege gibt es zwar freie Zimmer für neue Bewohner – aber keine Pflegekräfte. Also bleiben die Zimmer leer. „Wenn nicht in kürzester Zeit Entscheidungen getroffen und Maßnahmen ergriffen werden, droht das soziale System auf viele Jahre hin auszutrocknen“, heißt es in dem vorbereiteten Thesenpapier der Allgäuer Träger.
„Wir sitzen gemeinsam in einem Boot“, signalisierte Bezirkstagspräsident Sailer. Das habe schon die gute Zusammenarbeit während der pandemischen Lage gezeigt. Auch hatte es in den vergangenen Jahren bereits Treffen zwischen den sozialen Trägern und dem Bezirk gegeben. „Es braucht mehr Ermessensspielraum in der Auslegung des Pflege- und Wohnqualitätsgesetzes für die Träger.“ Der Bezirk werde die sozialen Träger bei einer Petition an den Landtag unterstützen – und ein persönliches Gespräch mit Bayerns Gesundheitsminister Klaus Holetschek und den sozialpolitisch relevanten Landtagsabgeordneten organisieren, versprach er.
Eine Feststellung der Krisensitzung gleich zu Beginn: Die klassische Bevölkerungspyramide hat in Deutschland inzwischen die Form eines „Bevölkerungs-Dönerspießes“ angenommen. Viele junge Menschen, wenig alte Menschen – das ist Vergangenheit. Die Altersstufen sind viel gleichmäßiger verteilt. Dr. Knauth: „Es haben noch nie so wenig Menschen im Alter zwischen 15 und 24 Jahren in der BRD gelebt wie jetzt.“ Man müsse also definitiv auf Dauer Fachpersonal aus dem Ausland akquirieren. Aufenthaltsgenehmigungen, Anerkennung von Abschlüssen – das müsse alles drastisch beschleunigt werden. „Wir können es uns nicht mehr leisten, Abschlüsse im Ausland nicht mehr anzuerkennen“, fasst Dr. Knauth zusammen.
Schon in der Klausurtagung im vergangenen Jahr forderten die sozialen Träger: „Die Fachkraftquote im gemeinschaftlichen Wohnen muss ausgesetzt werden!“ Das bringe für die Träger kurzfristig eine enorme Erleichterung und nehmen auch dem Personal Druck. Ein „Knackpunkt“ ist hier die Verordnung zur Ausführung des Pflege- und Wohnqualitätsgesetzes (AVPfleWoqG). Das Pflege- und Wohnqualitätsgesetz trat 2008 in Kraft, die dazugehörige Ausführungsverordnung im Jahr 2011. Es definiert die baulichen Standards ebenso wie Themen von Teilhabe, Weiterbildung und Personalanforderungen. Ein Beispiel: „Nach dieser Verordnung muss ständig eine Fachkraft im Wohnheim anwesend sein“, erläuterte Lüddemann und stellte in Frage: „Eine qualifizierte Hilfskraft mit 25-jähriger Berufserfahrung, ist nicht so geeignet wie jemand, der gerade seine Ausbildung als Heilerziehungspfleger oder Erzieher beendet hat?“ Kurzfristig könne ein Aussetzen dieser Regelung im Personalmangel helfen.
Esther Hofmann, Geschäftsführerin der Lebenshilfe Kreisvereinigung Lindau und der Lindenberger Werkstätten, erzählte aus der Praxis: „Es gibt keine Planbarkeit bei den Dienstplänen.“ Personalknappheit, Krankheiten, Corona würden alles immer wieder über den Haufen werfen, würden das bestehende Personal an die Belastbarkeitsgrenze bringen.
Bezirksrat Prof. Dr. Philipp Prestel plädierte für ein Interpretationspapier, das den Trägern mehr Freiraum bietet. Für bauliche Qualitätsstandards habe man ja auch Übergangsregelungen gefunden. Das sei auch relativ schnell umsetzbar.
Monika Kolbe, Leitung der Sozialverwaltung im Bezirk Schwaben, machte den Trägern Mut, auch Rechtsmittel gegen unbefriedigende Entscheidungen der FQA (Heimaufsicht) einzulegen, denn aktuell gebe es noch kaum bekannte Rechtsprechungen in diesem Bereich. Folglich gebe es Unsicherheiten und Unklarheiten. „Wir helfen Ihnen dabei“, bot sie an.
Bezirksrat Stefan Bosse forderte einen Paradigmenwechsel und meinte: „Die Standards sind ständig erhöht worden.“ Man werde handlungs-unfähig, wenn das so weitergehe! Die Konsequenzen seien nicht absehbar, war man sich einig, denn wenn die Betreuten wieder daheim versorgt werden müssen, fallen in anderen Bereichen auch wieder Mitarbeiter in der Industrie und Wirtschaft weg.
Um den Pflegemangel zu lindern, sei man auch auf motivierte junge Menschen angewiesen, bekräftigte Bezirksrätin Renate Deniffel. Aus diesem Grund wurde auch langfristig ein verpflichtendes soziales Jahr für alle Schulabgänger in das Thesenpapier aufgenommen.
Die bevorstehende Landtagswahl im September 2023 sah Michael Hauke, Geschäftsführer der Allgäuer Werkstätten als Chance, vorher mit den Politikern ins Gespräch zu kommen. „Immerhin vertreten wir mehr als 12 000 Betreute plus Eltern und Angehörige. Die Zeit bis zur Wahl sollten wir nutzen.“ Das unterstrich auch Barbara Holzmann, Bezirkstagsvizepräsidentin. „Wir brauchen die Landtagsabgeordneten auf unserer Seite.“