Schwäbisches Bildungszentrum Irsee - Ernst Lossa: Gesicht und Stimme der NS-Patientenmorde.

01. August 2024: Am 8. August vor 80 Jahren wurde Ernst Lossa in Irsee ermordet, am 1. November vor 95 Jahren in Augsburg geboren.
Foto des zehn- oder elfjährigen Ernst aus dem psychiatrischen Gutachten des Landesverbands für Wander- und Heimatdienst. - Foto: Landeskirchliches Archiv der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern, Herzogsägmühle 3214

Am Abend des 8. August 1944 wird in der Heil- und Pflegeanstalt im bayerisch-schwäbischen Irsee die Ermordung des vierzehnjährigen Ernst Lossa beschlossen. Pfleger kommen an das Bett des Jungen und verabreichen ihm gewaltsam zwei Morphiumspritzen. An der Überdosis stirbt Ernst Lossa am Nachmittag des 9. August.

In diesem Jahr gibt es gleich zwei Anlässe, an den Jungen zu erinnern. Sein Todestag jährt sich zum 80. Mal. Und am 1. November ist sein 95. Geburtstag. Deshalb wird am Allerheiligentag bei der Gedenkveranstaltung "Lichter gegen das Vergessen" im Schwäbischen Bildungszentrum Irsee besonders des Jungen gedacht.

Ernst Lossa war einer von rund 5.000 Kindern, die den nationalsozialistischen "Euthanasie"-Verbrechen zum Opfer fielen. Insgesamt wurden schätzungsweise 300.000 Menschen im Rahmen des staatlich gelenkten Vernichtungsprogramms ermordet. Es waren Menschen mit Behinderung, psychisch Kranke oder Menschen, die das NS-Regime als "Ballastexistenzen" abwertete.

Ernst Lossa wurde am 1. November 1929 in Augsburg geboren. Er stammte aus einer jenischen Familie, eine von den Nazis als "Zigeuner" verfolgte Minderheit, die als fahrende Händler und Handwerker lebte. 1933 nahmen die Behörden Ernst und seine Geschwister den Eltern weg und brachten sie in verschiedene Kinderheime. Kurz danach starb Ernsts Mutter, sein Vater wurde später von den National­sozialisten in ein Konzentrationslager deportiert und starb 1942 im KZ Flossenbürg.

In der Schule wurde Ernst als "schwer auffälliges" Kind beschrieben, dem man eine "asoziale Veranlagung" zuschrieb. Aufgrund von Verhaltensauffälligkeiten und angeblicher "Unerziehbarkeit" wurde Ernst von einem Heim zum anderen verlegt. Trotz normaler geistiger Entwicklung wurde er schließlich mit der Diagnose "asozialer Psychopath" stigmatisiert und in die psychiatrische Anstalt Kaufbeuren-Irsee eingewiesen. Auf Befehl des Anstaltsleiters Valentin Faltlhauser wurde Lossa in der Nacht zum 9. August 1944 in Irsee durch eine tödliche Injektion ermordet.

Das Schicksal des Jungen fiel bereits 1945 den Amerikanern auf, als sie die Patientenmorde untersuchten. Der Mord an dem Jungen diente als Präzedenzfall im Prozess gegen Ärzte und Pfleger im Jahr 1949 vor einem Augsburger Schwurgericht.

Nach Jahrzehnten des Schweigens holte in den 1980-er Jahren Prof. Dr. Michael von Cranach, der damalige Direktor des Bezirkskrankenhauses Kaufbeuren, die Opfer aus dem Vergessen. Ihm ist auch das Wissen um Ernst Lossa zu verdanken. Bei der Aufarbeitung der Morde an über 2.500 Patientinnen und Patienten in der Heil- und Pflegeanstalt Kaufbeuren-Irsee stieß er auf die Akte von Ernst Lossa und stellte erste Nachforschungen an. Auf Cranachs Anregung recherchierte der Journalist und Autor Robert Domes die Lebensgeschichte des Jungen und schrieb darüber das Buch "Nebel im August. Die Lebensgeschichte des Ernst Lossa" (München 2008).

Durch den Roman und die anschließende Verfilmung (2016; Regie: Kai Wessel) ist das Schicksal von Ernst Lossa einer breiten Öffentlichkeit bekannt geworden. Der Junge ist zu einer Symbolfigur für die Patientenmorde geworden. Seine Geschichte gibt den Opfern der Nazi-"Euthanasie" Gesicht und Stimme, und sie unterstreicht die Grausamkeit des Programms. Sein jugendliches Alter und die Umstände seines Todes machen seine Geschichte besonders eindringlich. Sie offenbart das verlogene Menschenbild der Nazis.

Der 80. Todestag und der 95. Geburtstag von Ernst Lossa geben dieses Jahr besondere Gelegenheit, sich an die menschenverachtenden Verbrechen zu erinnern und zugleich ein Zeichen zu setzen, dass Menschen auf Grund von Krankheiten, genetischer Dispositionen oder gesellschaftlich abweichendem Verhalten nicht stigmatisiert werden dürfen.

Dies wird am 1. November auch wieder bei der Gedenkveranstaltung "Lichter gegen das Vergessen" geschehen. Auf dem ehemaligen Anstaltsfriedhof Irsee treffen sich seit 2010 am Allerheiligentag Menschen aus der Umgebung und Angehörige, um der Opfer der NS-"Euthanasie" in der ehemaligen Heil- und Pflegeanstalt Kaufbeuren-Irsee zu gedenken. Die Gedenkveranstaltung, organisiert von Kloster Irsee, dem Tagungs-, Bildungs- und Kulturzentrum des Bezirks Schwaben, und vom Bildungswerk des Bayerischen Bezirketags, wird in diesem Jahr Ernst Lossa besondere Ehre erweisen

Text:
Robert Domes
Autor, Journalist, Ausbilder; Mail: info@robertdomes.com

Ansprechpartner:
Dr. Stefan Raueiser, Leiter Schwäbisches Bildungszentrum und Bildungswerk Irsee
Mail: stefan.raueiser@kloster-irsee.de