Was aus der Idee mit den alten Schulkarten geworden ist

14. November 2024: Gut ein Jahr ist es her, dass sich Christine Bayerle an den Bayerischen Rundfunk (BR) gewandt hat. Die Leiterin der Tagesstätten für seelische Gesundheit in Günzburg und Krumbach bat in einem bayernweiten Aufruf darum, den beiden Einrichtungen der Bezirkskliniken Schwaben alte Schulkarten zu überlassen. Die Besucherinnen und Besucher der Tagesstätten, denen hier tagesstrukturierende Tätigkeiten angeboten werden, sollten daraus kunstvoll gestaltete Lampenschirme für Stehlampen machen. Was ist aus der Aktion geworden? Mit ein paar Worten zusammengefasst: eine ganze Menge.
Wolfgang Nieschan (links) und Daniel Friedrich von der Tagesstätte für seelische Gesundheit Krumbach freuen sich über die kunstvoll gestalteten Stehleuchten. Bild: Georg Schalk, Bezirkskliniken Schwaben

Christine Bayerle und ihre Mitstreiter hatten im Oktober 2023 nicht geahnt, welche positive Welle sie mit ihrer Idee entfachen würden. Nach dem BR-Interview folgten TV-Beiträge im Bayerischen Fernsehen und auf SAT.1, Presseberichte unter anderem in der Günzburger Zeitung und den Mittelschwäbischen Nachrichten sowie zahllose Telefonate und E-Mails. „Mittlerweile haben wir etwa 5000 Karten von ca. 85 Schulen in Bayern abgeholt und zwischen 150 und 200 Stehleuchten verkauft“, zieht die Leiterin als Zwischenfazit. Aus der Aktion ist ein vom Bezirk gefördertes Zuverdienstprojekt geworden. Angesichts der Dimension wurde durch die Förderung eine Teilzeitstelle geschaffen und im September mit der angehenden Ergotherapeutin Melanie Knoll besetzt. „Sie fängt als Managerin für soziale Projekte jetzt mit dem Katalogisieren der Karten an. Ehrlich gesagt haben wir immer noch keinen vollständigen Überblick über alles“, berichtet Bayerle.


Außerdem wurde die Produktpalette erweitert: Neben Lampen in verschiedenen Größen und Motiven gehören mittlerweile auch eine Notizbuch- und -heft-Fertigung zum Zuverdienstprojekt. Aus alten Bildkalendern und Restmotiven aus der Lampenproduktion werden einzigartige und individuelle Einbände und Umschläge für besondere Hefte und Tagebücher hergestellt. Zum Beispiel kann man ein Reisetagebuch mit Ausschnitten einer entsprechenden Karte des Reiselandes beziehen lassen.
Sicher ist, dass in den fünf Lagern, die die Tagesstätten mittlerweile eingerichtet haben, wahre Schätze liegen. Gemeinsam mit ihren Mitarbeitern fuhr Christine Bayerle in ganz Bayern die unterschiedlichsten Schulen ab, um die Karten, die ihnen angeboten wurden, abzuholen: von Ostheim bis Garmisch-Partenkirchen und von Altötting bis Aschaffenburg. Aus dem riesigen Fundus kamen Raritäten zum Vorschein, zum Beispiel eine Biologiekarte aus dem Jahr 1864, eine große Wandkarte vom Mond oder eine Südafrika-Karte von 1925. „Das ist gelebte Geschichte“, stellt die Leiterin fest. Diese Karten sollen nicht zerschnitten werden, um Lampen daraus zu basteln, sondern angesichts ihres Wertes zum Beispiel einem Schulmuseum oder einem Planetarium überlassen werden.


Das Wichtigste aber ist: Die mitwirkenden Besucher der Tagesstätten haben die Sicherheit, dass das Zuverdienstprojekt ganz lange anhalten und über Jahre laufen wird. „Es ist unglaublich schön zu sehen, wieviel positive Energie die Menschen, die mit psychischen Problemen zu kämpfen haben und in unseren Tagesstätten eine Gemeinschaft finden, aus der Aktion ziehen. Mich berührt, wenn Menschen ihre Fähigkeiten wieder zeigen können, und das auch wertgeschätzt wird. Das haben viele lange nicht erlebt“, so Bayerle.


Es ist nicht das Ziel, in Massenproduktion zu gehen. Vielmehr liegt der Fokus darauf, bei der Produktion das Credo der Tagesstätten umzusetzen. „Jeder kann sich nach seinen Kräften und Möglichkeiten einbringen und beteiligen - ohne Stress und Produktionsdruck.“ Auch müsse nicht alles perfekt sein, so die Initiatoren. Etwa fünf bis sechs Stunden dauert es, bis beispielsweise eine Stehlampe fertig ist. Ein Exemplar kostet 139 Euro. Der Erlös fließt zurück ins Projekt. Auch die Teilnehmenden bekommen eine Entschädigung für ihre Arbeit, in Form einer „Motivationspauschale“. Christine Bayerle: „Mindestens genauso freuen sich die Menschen mit seelischen Beeinträchtigungen über die Anerkennung, die sie dadurch erfahren. Diese Zuverdienstprojekte bringen ihnen durch aktive Teilnahme Abwechslung, Freude und positive Wertschätzung.“


Unter den gespendeten Karten waren viele Kunststoffkarten, sodass sich bald die Frage stellte, wie man diese verwenden könnte, berichtet Bayerle. Für die Lampenschirmproduktion seien sie jedenfalls ungeeignet. Nach mehreren vergeblichen Versuchen, diese ebenfalls an soziale Einrichtungen zu spenden, beschloss das Tagesstätten-Team, es selbst mit der Wiederverwertung zu versuchen. Herausgekommen sind individuelle Taschen, die aus den Kunststoffkarten hergestellt werden. Diese sind in verschiedenen Größen und Modellen erhältlich. „Derzeit gibt es Einkaufs- und Umhängetaschen, Dokumentenmappen und -taschen und vieles mehr“, rührt Bayerle die Werbetrommel. Auch hier gilt: Bei allen Produkten handelt es sich um Unikate, keines sieht aus wie das andere. „Wir können dabei auch individuelle Wünsche berücksichtigen.“ Bei der Anfertigung werden die Tagesstätten von zwei sozialen Einrichtungen unterstützt: von Integra Soziale Dienste in Ingolstadt und von der Forensischen Klinik in Günzburg.


Unikate sind auch die Acrylbilder, die auf Wunsch mit den verschiedensten Motiven auf selbstbespannte und -angefertigte Leinwände gezeichnet oder gemalt werden. Diese Bilder werden ebenfalls in verschiedenen Größen und Formaten angefertigt.
Die Welle der Hilfsbereitschaft ebbt nicht ab. Vertreter von Schulen, psychiatrischen Einrichtungen und Privatleute aus ganz Bayern finden die Aktion „sagenhaft“ und „unglaublich wertvoll“. Manche meldeten sich und bedauerten, dass sie nicht früher davon erfahren hätten. Sie hätten ihre Exemplare leider vernichtet. Denn die Digitalisierung hat die Karten im Unterricht nahezu komplett ersetzt.
„Glücklicherweise kommen immer noch alte Schulkarten rein. Aktuell liegt eine Anfrage aus Baden-Württemberg vor, genauer gesagt aus Heilbronn“, teilt Christine Bayerle mit. Während sie über das Zuverdienstprojekt berichtet, klingelt das Telefon. Eine Schule am Chiemsee ruft an. Der Anrufer kündigt an, demnächst auf dem Weg nach Unterfranken einen Abstecher ins schwäbische Günzburg zu machen und eine Kartenlieferung vorbeizubringen. Die Leiterin strahlt und bedankt sich herzlich. „Damit können noch mehr Menschen von dem Projekt profitieren.“ Die Aktion geht weiter.